Rückstellungen in Handelsbilanz – und auch in der Steuerbilanz – gehören in der deutschen Wirtschaft nach Art, Inhalt und Höhe zu den besonders bedeutsamen Bilanzposten. Rückstellungen werden in der Literatur viel diskutiert, bilden einen wichtigen Bereich in der Rechtsprechung und sind ein Bereich, in dem Handels- und Steuerbilanz immer mehr auseinander laufen.
Anhand der drei Beispiele Rückstellungen für Gewährleistungsverpflichtungen, Rückstellungen für den sogenannten Nachteilsausgleich bei Vereinbarungen zur Altersteilzeit sowie Restrukturierungsrückstellungen möchten wir die aktuelle Diskussion nachfolgend kurz darstellen.
Der X. Senat des BFH hat mit Beschluss vom 28.08.2018 (X B 48/18) zu Rückstellungen für Gewährleistungsverpflichtungen entschieden, dass ein vom Besteller zum Bilanzstichtag noch nicht gerügter aber objektiv bereits am Bilanzstichtag angelegter Werkmangel, der zu jenem Stichtag noch keine erkennbare betriebsbeeinträchtigende Wirkung entfaltete, für die Passivierung einer Verpflichtung nicht ausreicht. Dass der Besteller den Mangel noch nicht angezeigt hat, lässt den BFH vermuten, dass der Besteller von diesem Mangel noch keine Kenntnis hatte und somit der Werkunternehmer am Bilanzstichtag noch nicht ernsthaft mit einer Inanspruchnahme zur Gewährleistung rechnen musste. Handelsrechtlich beurteilt liegt hier gleichwohl ein Fall einer Wertaufhellung nach dem Abschlussstichtag vor, der zwingend nach § 252 Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 HGB zu berücksichtigen ist. Die Passivierung in der Handelsbilanz darf nicht mit dem Argument unterbleiben, die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme aus der Gewährleistungsverpflichtung sei erst nach Bekanntwerden hinreichend wahrscheinlich geworden. Ob eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme besteht, ist nicht zum Abschlussstichtag, sondern bei Beendigung der Aufstellung des jeweiligen Abschlusses und damit unter Berücksichtigung wertaufhellender Erkenntnisse zu beurteilen.
Bei Altersteilzeitverträgen zahlen Arbeitgeber häufig Abfindungsleistungen an Arbeitnehmer, da diese infolge des vorzeitigen Eintritts in die Rente Rentenkürzungen erleiden; die Abfindungszahlungen sollen diesen Nachteil ausgleichen (sogenannter Nachteilsausgleich). Der I. Senat des BFH hat mit Urteil vom 27.09.2017 (I R 53/15) entschieden, dass eine Rückstellung für den Nachteilsausgleich vor dem tatsächlichen Eintritt in die Rente mangels rechtlicher Entstehung und wirtschaftlicher Verursachung am Bilanzstichtag nicht gebildet werden darf. Nicht nachvollziehbar ist, warum der BFH zumindest die wirtschaftliche (ggf. zeitanteilige) Verursachung der Nachteilsausgleichsverpflichtung des Arbeitgebers bereits vor dem Zeitpunkt des Eintritts in die Rente (dem Zeitpunkt des rechtlichen Entstehens der Verpflichtung) ablehnt. Die Pflicht zur Zahlung eines Nachteilsausgleichs ist als integraler Bestandteil der Altersteilzeitvereinbarung anzusehen; mithin geht der Arbeitgeber je nach Charakter des Nachteilsausgleichs eine Abfindungsverpflichtung ein (Abfindungscharakter) bzw. gerät er mit fortschreitender Beschäftigungsdauer zunehmend in Erfüllungsrückstand (Entlohnungscharakter). Bei der Aufstellung der Handelsbilanz ist die Passivierung des Aufwandes für den Nachteilsausgleich – somit abweichend von der Steuerbilanz – bereits vor dem Zeitpunkt des Eintritts in die Rente durch Bildung einer Rückstellung geboten (vgl. auch IDW RS HFA 3 n.F., Tz. 19 ff. analog).
Der Ansatz von Verbindlichkeitsrückstellungen für Restrukturierungsmaßnahmen im handelsrechtlichen Jahresabschluss setzt aufgrund der grundsätzlichen Unzulässigkeit der Bildung von Aufwandsrückstellungen (§ 249 Abs. 2 Satz 1 HGB) die Begründung einer Außenverpflichtung voraus, die bis zum Abschlussstichtag rechtlich entstanden ist oder deren künftige rechtliche Entstehung hinreichend wahrscheinlich ist. Zur Erfüllung dieser Kriterien bedarf es zwar nicht der rechtsverbindlichen Aufstellung von Sozialplänen bis zum Abschlussstichtag, wohl aber grundsätzlich zumindest der Beschlussfassung der für die Genehmigung der Betriebsänderung zuständigen Unternehmensorgane (gesetzliche Vertreter, sonstige zustimmungspflichtige Unternehmensorgane wie z.B. Aufsichtsrat oder Gesellschafterversammlung) über die Durchführung der Restrukturierungsmaßnahme. Aufgrund einer solchen Beschlussfassung muss ernsthaft mit der Durchführung der Maßnahme zu rechnen sein, die zu bestimmbaren Abfindungsleistungen führt. Der Information des Betriebsrats oder der Arbeitnehmer über die geplante Betriebsänderung kommt zwar eine Nachweisfunktion im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit des vor dem Abschlussstichtag gefassten Restrukturierungsbeschlusses und damit der hinreichenden Konkretisierung der Außenverpflichtung zu, allerdings ist es nicht zwingend erforderlich, dass Betriebsrat oder Arbeitnehmer bis zum Ende des Wertaufhellungszeitraums informiert worden sind, sofern aus anderen Tatsachen eine ausreichende Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden kann. Beispiele: Information steht nachweislich kurz bevor, bereits erfolgte Information von Investoren bzw. der Öffentlichkeit, Beauftragung externer Berater mit der Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen.
Die Vielfalt der in der Bilanzierungspraxis auftretenden Rückstellungsfragen ist immens. Häufig erfolgt die Rückstellungsdiskussion im Interessenwiderstreit von Bilanzierendem, Abschlussprüfer und Finanzverwaltung. Man muss sich in diesem Zusammenhang klarmachen: Rückstellungen haben zwar „unsicherheitsbedingtes Gestaltungspotenzial“, im Kern handelt es sich aber um „ungewisse Verbindlichkeiten“, die zumindest mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine sachgerecht zu quantifizierende betriebliche Last begründen und deshalb als „Schuldpositionen“ Eigenkapital und Gewinn reduzieren. Aus Sicht des Unternehmers ist dringend eine angemessene Dokumentation von Grund und Höhe der Rückstellungsbildung zu empfehlen – sowohl im Hinblick auf die Betriebsprüfung als auch auf die Abschlussprüfung.
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