Die Europäische Kommission hat am 22.11.2016 den Vorschlag einer Richtlinie (u.a.) für ein vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren veröffentlicht (Dok. COM(2016) 723 final). Damit setzt die Europäische Kommission eine Initiative um, die sie mit einer Empfehlung aus dem März 2014 initiiert und im Aktionsplan für die Schaffung einer Kapitalmarktunion im September 2015 erneut aufgegriffen hat.
Die geplante Richtlinie soll europaweit Mindeststandards für sogenannte präventive Restrukturierungsverfahren und die Entschuldung redlicher insolventer Unternehmer sicherstellen und so insolvenzbedingte Wertverluste vermeiden. Für Deutschland würde die Einführung eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens das derzeit geltende Insolvenzrecht wesentlich verändern. Das Verfahren, welches die Initiative in einem Gesetzgebungsverfahren durchlaufen muss, kann ohne weiteres ein Jahr oder länger andauern. Der Vorschlag sieht in Art. 34 Abs. 1 vor, dass die Mitgliedstaaten die Richtlinie innerhalb von zwei Jahren nach ihrem Inkrafttreten (zwanzig Tage nach Veröffentlichung) in nationales Recht umzusetzen haben.
Der Vorschlag deckt sich in Teilen mit dem Inhalt der Empfehlung aus 2014, er vertieft diese aber und geht über sie auch teilweise hinaus. Eine detaillierte Analyse von Inhalt und Trag-weite des Vorschlags soll an dieser Stelle nicht erfolgen. Folgende Merkmale speziell des vorgeschlagenen präventiven Restrukturierungsrahmens sind jedoch hervorzuheben:
- Das Restrukturierungsverfahren setzt voraus, dass sich ein Schuldner in finanziellen Schwierigkeiten befindet und die Möglichkeit einer Insolvenz besteht.
- Während des Restrukturierungsverfahrens kann ein Vollstreckungsaufschub für bis zu vier Monate, unter bestimmten Voraussetzungen bis maximal zwölf Monate, angeordnet werden.
- Während jedes Vollstreckungsaufschubes sind die Insolvenzantragspflichten für den Schuldner aufgehoben; während des allgemeinen Vollstreckungsaufschubes kann auf Antrag eines Gläubigers kein Insolvenzverfahren eröffnet werden; hiervon können bei Zahlungsunfähigkeit Ausnahmen vorgesehen werden. In diesen Fällen endet das Sanierungsverfahren aber erst, nachdem ein Gericht entschieden hat, ob die Sanierungsaussichten während des Vollstreckungsaufschubs rechtfertigen, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zurückzustellen.
- Der Schuldner soll die Kontrolle über sein Vermögen und die Geschäftsführung behalten. Es kann aber u. a. bei Anordnung eines allgemeinen Vollstreckungsaufschubes die amtliche Bestellung eines Restrukturierungsexperten vorgesehen werden. Dieser kann u. a. eine teilweise Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis erhalten, oder als Mediator bei den Verhandlungen mit den Gläubigern unterstützen oder als Sachwalter die Aktivitäten des Schuldners überwachen.
- Ein Restrukturierungsplan ist vorgeschrieben. Ein mehrheitlich beschlossener Restrukturierungsplan, der in Rechte von dissentierenden Gläubigern eingreift, wird für al-le Gläubiger verbindlich, wenn ein Gericht den Plan bestätigt.
- Stimmen einzelne Gruppen dem Restrukturierungsplan nicht zu, kann das Gericht den Plan gleichwohl per Zustimmungsersetzung (Cross-Class Cram-Down) bestätigen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind (Best Interest Test, mindestens eine Gläu-bigerklasse hat zugestimmt, Einhaltung der Absolute Priority Rule).
- Finanzierungsmaßnahmen, Zahlungen und sonstige Transaktionen im Zusammenhang mit einem Sanierungsverfahren genießen rechtlich besonderen Schutz, z. B. vor Insolvenzanfechtung oder Haftung, und dürfen Vorrang gegenüber sonstigen Forderungen einnehmen.
- Insbesondere kleinen und mittelständischen Unternehmen soll ein besserer und früherer Zugang zu Restrukturierungsmaßnahmen über sogenannte early warning tools, wie z. B. Buchhaltungs-, Monitoring- oder Berichtspflichten, angeboten werden.
Hervorzuheben sind ferner die Vorgaben des Vorschlags für Gerichte und Restrukturierungs- bzw. Insolvenzexperten zur Effizienzsteigerung von Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren. Die Kommission erwartet bei den Beteiligten eine angemessene Aus- und Fortbildung, Unabhängigkeit und Kompetenz, die Anerkennung eines Verhaltenskodex sowie klare, transparente und faire Auswahlverfahren basierend auf Erfahrung und Expertise. In grenzüberschreitenden Fällen verlangt sie darüber hinaus die Eignung zur Kommunikation und Kooperation mit ausländischen Insolvenzexperten und öffentlichen Stellen. Schließlich schlägt die Kommission vor, dass die Beteiligten wesentliche Verfahrensmaßnahmen elektronisch vornehmen können.
Der Richtlinienvorschlag adressiert ferner die Entschuldung insolventer, redlicher Unternehmer innerhalb einer einheitlichen Entschuldungsfrist von drei Jahren sowie die Datenerhebung zu Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren. Wenn die EU den Vorschlag als Richtlinie beschließt, so verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten zur Einhaltung der vorgegebenen Mindeststandards und ggf. zur Anpassung der Insolvenzrechtsordnungen der Mitgliedsstaaten.
Im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sind die Pläne der Europäischen Kommission – speziell zum vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahren – bislang offen, aber mit Zurückhaltung aufgenommen worden. So steht zunächst im Jahr 2017 die Evaluierung der ESUG-Insolvenzrechtsreform aus 2012 an. Bereits im Rahmen der ESUG-Reform war ein mögliches vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren diskutiert worden, der Gesetzgeber entschied sich aber schließlich gegen dessen Umsetzung. Stattdessen führte das ESUG das Schutz-schirmverfahren ein.
In der Restrukturierungspraxis findet das vorinsolvenzliche Sanierungsverfahren viel Zuspruch, aber auch Kritik. Einerseits versprechen Sanierungsbemühungen mehr Erfolg, je früher sie eingeleitet werden. Andere Stimmen sehen in einem vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahren, dass dem Schuldner Zeit für Verhandlungen gibt, eine Gefahr für Gläubigerrechte bei unsicherem Sanierungserfolg.